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Despedida – Lebewohl

Der Preis ist hoch, doch ich zahle ihn nicht. Die Frage ist gut, doch du fragst sie nicht. Der Weg ist weit, doch wir gehen ihn nicht. Ist besser hier im dichten Blickdicht.

Und dennoch sehe ich. Und Leben. Leben atmet durch mich.

Sie wollten diesen Abschied nicht. Sie waren klein. Kinder. Ihre Eltern zu müde, zu ausgelaugt, zu sehr mit vergangenen Dingen beschäftigt, aus denen nichts Gegenwärtiges mehr wachsen sollte. Sie wussten nicht, was Abschied heißt, aber sie wussten, was er bedeutet. Nichts mehr wie vorher. Die alltäglichen Routinen wurden durch Neue abgelöst. Es gab weniger Streit, aber mehr Wechsel. Weicher Boden unter den Füßen, wackeliger Gang. Keine freie Sicht. Nebel. Im Nachhinein schaffbar, damals anhaltend geschafft. Da war Ungewissheit, Trauer und manchmal auch ein bisschen Hoffnung.

Der Preis ist hoch.

Er wollte nichts davon und doch war es das Einzige, was übrig blieb. Heile Familie, das war der Plan. Aber was bedeutete das? Ist etwas heil, weil es numerisch gesehen vollständig, aber im Innen lückenhaft ist? Lässt sich etwas festhalten, das sich bereits gelöst hat?

Er hatte keine Ahnung, aber eine Verantwortung. Für sich, für die Kinder, für das, was sie als Erwachsene lebten und dafür, was sie bewusst oder unbewusst vor sich her leben ließen. Vielleicht lag in dem Abschied ein gemeinsamer Weg, vielleicht auch nicht. Keine freie Sicht. Nebel. Da war Ungewissheit, Trauer und manchmal auch ein bisschen Hoffnung.

Doch ich zahle ihn nicht.

Sie wagte diesen Abschied, auch wenn sie ihn nie gewollt hatte. Keine andere Möglichkeit in Sicht, alles versucht und ausprobiert. Lange Nächte geredet, die Herzen wund, die Augen leer. Der Text fließend und gleichsam nichts zu sagen. Das Ende einer Beziehung nimmt die Liebe mit sich, die anfangs darin wuchs. Ernüchterung, Schmerz, Traurigkeit, der leise Ruf von Weite. Sich frei lassen, um wieder werden zu können. Wenn sie in diesem Konstrukt verharren, bleibt alles bestehen. Das darf nicht passieren. Keine freie Sicht. Nebel. Nur dieses eine Leben. Sie müssen das versuchen.

Und sie sah Ungewissheit, Trauer und manchmal auch ein bisschen Hoffnung.

Die Frage ist gut.                                                                                                  

II

Sie konnte sich nicht verabschieden, aber die anderen wollten, dass sie es tut. All die Gewohnheiten, die sie liebte und die ihrem Leben zu schaffen machten. Sie waren die einzige Möglichkeit, sich zurückzuziehen, zu vergessen, zur Ruhe zu kommen. Wenn sie nicht damit aufhörte, würde ihr Körper sterben, das wusste sie. Doch sie war mehr als ihr Körper. Träger der darin wohnenden Energie. Leben existiert auf verschiedenen Ebenen, sie kannte einige davon. Hatte sich schon lange von dem distanziert, was andere für wichtig hielten. Sie wollte ihren Weg wählen, auch wenn er mit Abschied und Enttäuschung zu tun hatte. Die Täuschung hat ein Ende, für sie ein immerwährender Beginn. In ihm lag Ungewissheit, Trauer und manchmal auch ein bisschen Hoffnung.

Doch du fragst sie nicht.

III

Die Kälte löst den Herbst und dieser den Sommer ab. Blüten verwelken und nähren den Boden, Samen tragen sich durch die letzte Autonomie der Felder. Bäume werden abgeholzt, ganze Landstriche dem Erdboden gleich gemacht. Die Natur ein großes verbundenes System, wieviele von ihnen haben sie schon zu Grabe getragen. Geschöpfe wechseln ihre Lebensräume, kommen dem Menschen in die Quere, dabei kreuzen die eigentlich deren Weg. Temperaturen verschieben statistische Prognosen und Werte, Tierpopulationen schwinden, große Nationen tragen große Bekenntnisse vor sich her, die letztlich noch größeren Interessen weichen müssen. Halbseiden. So lange, wie es geht. Für manche funktioniert es bereits nicht mehr, aber das ist eine Frage der Perspektive und des Ortes. Abstand nehmen durch privilegierte Gestaltungsräume.

Der Weg ist weit.

Jeder von uns kennt mindestens einen Menschen, der Abschied von etwas nahm oder nehmen musste. Jeder von uns ist ein Abschied im Leben eines anderen gewesen oder wird es zukünftig sein. Körperzellen verabschieden und erneuern sich sekündlich. Unsere Enden definieren und wiegen die Regeneration. Phönix. Nicht eindeutig, aber ambivalent.

Wir werden geboren in einen großen Abschied. Der erste Atem löst die wohlig vertraute Wärme ab. Die folgenden Jahre kleiden sich unaufhaltsam in Meilensteine, an die wir uns später kaum erinnern. Es ist, als ob es sie nie gegeben hätte. Wir verabschieden unsere Kindheit, unsere Jugend und manche Träume – man muss einen Schritt nach vorne gehen, um zurücksehen zu können. Wir haben Musik- und Kleidungsstile aufgegeben, von denen wir dachten, dass sie uns ein ganzes Leben lang begleiten. Wir sind Freundschaften eingegangen, aber nicht alle haben es geschafft. Als Erwachsene haben wir gedanklich dem Rauchen von Zigaretten, dem Trinken von Alkohol oder anderen Dingen abgeschworen und dennoch mehrere Anläufe gebraucht, um den Absprung zu schaffen. Wir haben an großen Wohnzimmertischen und in noch größeren Diskussionen gesellschaftliche Systeme abgeschafft, um in der nächsten Sekunde darin weiterzuleben. Wir haben uns von Menschen für Dinge verabschiedet, die auch uns innewohnen. Wir haben von Beziehungen Abschied genommen, um sie leicht zeitversetzt in ähnlicher Weise wieder aufzunehmen.

Doch wir gehen ihn nicht.

Ab schied

Ab jetzt

Ab spann

Ist besser hier.

Wir haben große berufliche Pläne geschmiedet und nicht daran geglaubt. Wir haben uns Kleidung und Besitztümer gekauft, um etwas zu fühlen, das wir nicht fühlten. Wir haben aus Überzeugung vegan gelebt und unaufhaltsam den fehlenden Genuss von Rührei bedauert. Wir haben kluggeschissen und begrenzt gehandelt. Wir haben Menschen beerdigt und waren mit der Endlichkeit des eigenen Lebens konfrontiert. Wir haben andere darin unterstützt, bestmöglich Abschied von Liebgewonnenem zu nehmen, weil das der einzige Weg eines aushaltbaren Umgangs war.

Wir hatten schon viele Abschiede im Leben, haben sie noch.

Im dichten Blickdicht.

Davon waren nicht alle gewollt und dennoch forciert. Und dann gab es die, die wir wollten und letztlich nicht wählten. Sie alle saßen hier, an diesem Ort, der unser zu Hause ist. Jeder für sich und doch alle gemeinsam. Manche haben wir rigoroser ins Ziel gebracht als andere. Manche von den Vollzogenen haben wir innerlich bis heute offengelassen, während wir andere nicht offiziell vollendeten, aber dennoch aus unserem Leben entließen. Haben wir die Vollzogenen dann wirklich vollzogen und die anderen nicht? Vollzieht man Abschiede eigentlich oder verabschiedet man sie besser?

Und dennoch sehe ich.

Diese Welt birgt eine Vielzahl davon und nicht alle haben mit dem körperlichen Sterben und Beerdigungen zu tun. Blickpunkt: Perspektive. Was für den einen ein Abschied ist, ist für den anderen ein Neuanfang. Mitunter muss etwas gehen, damit Raum für Anderes entsteht. Gelegentlich weiß man das und hat einen gewissen Einfluss darauf und gelegentlich geschehen die Dinge ohne das eigene, spürbare Zutun. Man fühlt sich im Stich gelassen, vom Leben betrogen. Hin und wieder gelingt es im Nachhinein einen Gewinn darin zu sehen, auch wenn es perfide klingt und sich lange so anfühlt. Die Nadel im Heuhaufen. Der Faden im Tumult. Dem Chaos eine Entwicklung geben, damit man besser oder überhaupt weitergehen kann.

Und Leben.

Und bei allem Gehen haben wir stets uns selbst dabei. Mit Gewohnheiten, Glaubenssätzen, im Weg stehenden inneren Hürden. Und hier kommt ein Abschied, den man in diesem Universum, in diesem Leben, in seiner Gänze nie vollziehen kann und auch nicht sollte:

Der Abschied von sich selbst.

Denn aus dem darin liegenden Ringen und Wiegen ist Leben gemacht. Aus dem Suchen und Finden der Dinge, die noch in uns schlafen. Aus den lodernden Fragen, die uns unter den Nägeln brennen und auf die wir noch keine Antworten haben. Aus der Weigerung zu akzeptieren, dass es vielleicht keine Antworten darauf gibt. Aus mancher Ernüchterung, wozu wir Menschen in der Lage sind und aus dem daraus aufkeimenden Bestreben, etwas Verbindendes in diese Welt zu bringen. Aus der Größe, in die wir gelangen können, wenn wir uns der Freiheit und dem Ausmaß unserer Tiefe dauerhaft bewusst werden. Aus der eigenen Wildnis, dem Licht, in dem wir uns sehen und dem Dickicht, das unser Menschsein dort berührt.

Jeder Abschied lehrt uns, dass nichts ewig währt und dennoch immer existiert. Auf materieller Ebene ist es nicht mehr greifbar, aber dennoch im Herz, den Gedanken und Gefühlen. Gedanken werden Dinge. Dinge werden diese Welt. Und diese Welt wird sich weiterdrehen. Jede Sekunde. Jede Stunde. Jeden Tag.

Leben atmet durch mich.

Was also erzählen Abschiede über Gegenwart und Vergangenheit?

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Für mich erzählt ein Abschied etwas über die Perspektive, mit der ich in die Vergangenheit sehe und über den Platz, den ich daraufhin in der Gegenwart einnehme. Wie Flugzeuge, die auf die Startbahn rollen. Abheben, vorbeiziehen, landen. Von vorn.

Und ich glaube, dass die Momente des Abschiedes dem Leben gewidmet sind. Lebewohl. Denn im Kern des Weggangs, ob vollzogen oder nicht, liegt nicht nur die Frage nach dem, was geht, sondern es offenbart sich auch das, was ankommen könnte, darf oder soll.

Ist dieser Abschied ein Ab-spann?

Ein Ab-Lauf?

Ein immerwährender Auf-Takt?

Es hilft mir, der eigenen und fremden Abschiede bewusst zu sein, sie zu vergegenwärtigen und ihnen eine Richtung zu geben. Denn Abschiede erzählen nicht nur etwas über meine Vergangenheit und Gegenwart, nein:

Sie erzählen auch etwas über meine Zukunft.

 

 

 

 

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